In einer Zeit, als vollverkleidete und PS-strotzende Supersportler vom Schlage einer Suzuki Hayabusa die 300-km/h-Marke knackten, wirkte die bildschöne Kawasaki W 650 im Jahr 1999 wie ein anachronistisches Relikt längst vergessener Epochen. Mit der W 650 schuf Kawasaki einen wahren Klassiker im Stil der 60er-Jahre, der als Vorreiter eines Retrotrends die Motorradwelt vor 20 Jahren gründlich auf den Kopf stellte. Und im nächsten Jahr avanciert der Retro-Klassiker bereits zum Youngtimer.
Ihr Anblick erinnerte an ein echtes Alteisen der Sechziger und frühen Siebziger. Der klassisch anmutende Königswellen-Twin mit moderner Vierventiltechnik steckt in einem althergebrachten Fahrwerk mit Doppelschleifenrahmen, Duo-Federbeinen und Speichenrädern. Rund um den langhubigen Königswellen-Twin haben die Kawasaki-Entwickler ausgeprägten Sinn für Details bewiesen und spendierten der W 650 großartige Vintage-Attribute wie Tankkissen oder Faltenbälge für die Telegabel. Durchgängig wurden Metallteile gegenüber Kunststoffteilen bevorzugt, was die W650 sehr wertig erscheinen lässt und was sie tatsächlich auch ist. Und moderne Features wie Transistorzündung und Vierventiltechnik beließen die Konstrukteure gekonnt im Verborgenen.
Damals wie heute ist die Kawasaki W 650 ein Fest für die Sinne. Verchromte Schutzbleche und Speichenfelgen schmeicheln unseren Augen. Als echter Parallel-Twin lässt uns der Motor sein Arbeitsprinzip bis in den Lenker hinein auf angenehme Weise spüren. Die unübersehbare Königswelle huldigt dem nostalgischen Nockenwellenantrieb mit leichten Singgeräuschen. Und der Kickstarter spricht sofort unser Herz an und lässt uns den E-Starter von alleine vergessen. Kaum ein anderer Hersteller verpackt so ein authentisches Gefühl und klassisches Design in einem einzigen Motorrad.
Konsequent orientierten sich die Japaner an englischen Bikes
Die Wurzeln der W 650 reichen bis ins Jahr 1966 zurück. Die W1 650 war damals das hubraumstärkste japanische Motorrad ihrer Zeit bis Honda wenig später mit der CB 750 Four neue Maßstäbe in Sachen Hubraum und Leistung setzte. Kawasakis erstes W-Modell war das Ergebnis aus einer Kooperation mit Motorradhersteller Meguro, der bereits eine Halbliter-Maschine im Programm hatte. Allerdings orientierte sich die auf 650 ccm aufgebohrte W1 technisch zu stark an der BSA A7 und verkaufte sich außerhalb Japans nur schleppend. Belächelt und enttäuscht stellte Kawasaki nach acht Jahren die Produktion der W1 650 wieder ein.
Es dauerte 25 Jahre bis sich der japanische Motorradhersteller seiner Wurzeln besann und mit der Kawasaki W 650 die Motorradwelt 1999 abermals erstaunte. Zwar hatte die neu entwickelte W 650 nichts mehr mit dem einstigen W-Modell gemeinsam, aber sie vereinte die Ideale vergangener Motorrad-Epochen konsequent mit einem kernigen Motor und zeitlosem Design. Kein Wunder, dass sie die Herzen vieler Motorradfahrer im Sturm eroberte und die Begeisterung ungebrochen ist. Entsprechend hoch sind die Preise am Gebrauchtmarkt. Leider war 2006, nach mehrfacher Modellpflege, abermals Schluss. Das Nachfolgemodell W800 präsentierte Kawasaki nach fünfjähriger Pause im Jahr 2011.
Moderne Technik klassisch verpackt
Der luftgekühlte Zweizylinder-Motor mit seinen 676 ccm Hubraum ist sehr langhubig und auf einen starken Durchzug bei mittleren Drehzahlen ausgelegt. In dem SOHC-Zylinderkopf stecken vier Ventile pro Zylinder. Die über eine Königswelle angetriebene Nockenwelle ist dabei die sprichwörtliche Krönung des Zylinderkopfs und ein unübersehbares Alleinstellungsmerkmal des Kawasaki-Motors. Während die japanischen Hersteller fast ausschließlich auf Steuerketten als Nockenwellenantrieb setzen, verzichtete selbst Königswellen-Primus Ducati im Laufe der Unternehmensgeschichte zugunsten von Zahnriemen auf den Königswellenantrieb. Diese drehzahlfeste und wartungsfreie, aber auch laute und fertigungstechnisch teure Nockenwellenbetätigung verleiht der Kawasaki W 650 einen stilechten Auftritt. Ich sage nur: es lebe die Königswelle!
Als echter Parallel-Twin mit 360-Grad-Kurbelwelle verfügt der langhubig ausgelegte Gleichläufer über ein schweres Schwungrad, dass die kraftvolle Drehmomententwicklung unterstreicht. Eine Ausgleichswelle dämpft die dem Arbeitsprinzip innewohnenden Vibrationen auf ein absolut erträgliches Minimum ab. Doch der Blick in den Rückspiegel wird trotz technischer Eingriffe jedes Mal zur Zitterpartie.
Im Maximum stehen zwischen 2.000 bis 6.000 Umdrehungen 54 bis 56 Nm Drehmoment ab Werk zur Verfügung. Der Wohlfühlbereich liegt dabei aber eher zwischen 3.000 und 5.500 Umdrehungen. Der robuste Motor der Kawasaki W 650 leistet 50 PS, womit noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Die kleinen 34er Gleichdruckvergaser und die niedrige Verdichtung von 8,6:1 lassen erkennen, dass die Motorkonstrukteure „weniger auf die Spitzenleistung als auf einen guten Drehmomentverlauf Wert gelegt hatten“, wie Motorenpapst Ulf Penner weiß. Eine Leistungssteigerung auf 55 bis 65 PS ist für die W650 problemlos machbar.
Obwohl die Kawasaki W 650 einen E-Starter an Bord hat, ist dieser nichts für echte Kerle. Angesagte Custom-Schmieden schmeißen ihn deshalb fast schon obligatorisch beim Cleanen raus. Denn den Zweizylinder bringt man kinderleicht per Kickstarter zum Klingen. Einfach auf die linke Fußraste stellen, vorsichtig den Kickstarter heruntertreten, bis der obere Totpunkt überwunden ist. Dann wieder hoch und einmal mit Schmackes durchtreten und sie läuft. Das entfachte Bollern aus den verchromten Doppel-Auspuffrohren ist wie Musik. Leider hat Kawasaki die spätere W800 akustisch ziemlich abgewürgt, nicht so bei der 650er.
Dank breitem Lenker hat man alles bestens im Griff, wobei er mir sogar etwas zu breit geraten ist. Die 50 PS Leistung reichen locker, um die mit 212 Kilogramm nicht ganz leichte Kawasaki aus dem Stand vorwärtszutreiben. Auch wenn sie alles andere als Beschleunigungsorgien mag, stürmt sie bei Bedarf auch in 5 Sekunden auf die 100-km/h-Marke zu. Die Höchstgeschwindigkeit von ca. 170 km/h macht sie zwar mit, aber dafür wurde dieses Motorrad eigentlich nicht geschaffen. Echter Fahrgenuss stellt sich auf flotten Landstraßen ein.
Beim Fahrwerk reicht das Nostalgie-Konzept der Kawasaki W 650 von einem stabilen Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, über eine Telegabel mit 39 mm Standrohren, einer Schwinge mit zwei einstellbaren Federbeinen konsequent bis hin zum Retro-Profil der Bridgestone Accolade Pneus auf den Alufelgen.
Einziger Wermutstropfen der W 650 ist die recht teigige Scheibenbremse vorn, bei der man kräftig zupacken muss, um den Vierzentner-Boliden zum Anhalten zu bewegen. Anders die 160 mm Trommelbremse hinten, die zwar bei Feuchtigkeit anfangs etwas quietscht, aber zuverlässig ihren Dienst verrichtet.
Was ist zu beachten, wenn man eine Kawasaki W 650 kaufen möchte
Die Kawasaki W 650 gibt sich äußerst robust und erreicht bei artgerechter Haltung Laufleistungen von bis 150.000 Kilometern problemlos. Voraussetzung: regelmäßige Wartung mit Öl- und Filterwechsel. Sollte der Motor an den O-Ringen der Königswelle etwas Öl schwitzen, ist das nicht besorgniserregend. Auch sirrende Geräusche der Königswelle sind normal.
Die meisten Angebote liegen deutlich unter sechsstelligen Kilometerleistungen. Aufgrund der kurzen Bauzeit und geringen Verkaufszahlen, die hinter den Erwartungen zurück blieben, ist die Kawasaki W 650 als Gebrauchtmotorrad definitiv kein Schnäppchen. Unter 4.000 Euro geht meistens gar nichts. Zudem hat die Customszene die W650 als Tuningobjekt für sich entdeckt. Alles in allem lässt das die Preise jährlich etwas steigen.
Bei frühen Modellen lohnt es sich die Bremsbeläge der Scheibenbremse auszutauschen. Laternenparker haben häufig Rostpickelchen auf Chromteilen, die sich aber wegpolieren lassen. Durchrosten kann bei der W 650 allerdings nichts. Sollten Maschinen längere Zeit gestanden haben, empfiehlt sich eine gründliche Vergaserreinigung im Ultraschallbad.
Ein Kauf lohnt sich in jedem Fall, denn wo bekommt man sonst diesen Fahrspaß zusammen mit wunderbar klassische Linien ohne jeglichen Schnickschnack präsentiert. Immer wieder werden W-Fahrer danach gefragt, was das für ein Modell sei. Kaum jemand vermag sich hinter dem schicken Youngtimer einen japanischen Hersteller der Gegenwart vorstellen.
Technische Daten der Kawasaki W 650
Motor
- Typ: luftgekühlter Zweizylinder-Viertaktmotor, 360-Grad-Kurbelwelle, eine Ausgleichswelle; Motor in Gummielementen gelagert
- Hubraum: 676 ccm
- Bohrung x Hub: 72 x 83 mm
- Verdichtungsvehältnis: 8,6:1
- Nockenwellenantrieb: 1 obenliegende Nockenwelle über Königswelle angetriebene, Kipphebel, vier Ventile pro Zylinder
- Leistung: 50 PS bei 7.000 U/min
- Max. Drehmoment: 56 Nm bei 5.500 U/min,
- Vergaser: 2 Keihin-Gleichdruckvergaser (Typ: CVK34)
- Schmierung: Nasssumpfschmierung
- Kraftübertragung: Primärantrieb über Zahnräder, Mehrscheiben-Kupplung im Ölbad, klauengeschaltetes Fünfganggetriebe, Sekundärantrieb über O-Ring-Kette
Fahrwerk
- Rahmen: Doppelschleifenrohrrahmen aus Stahlrohr
- Vorn: Telegabel mit 39 mm Standrohren mit 130 mm Federweg
- Hinten: Doppelschwinge und zwei fünffach verstellbare Federbeine mit 85 mm Federweg
- Räder: vorn und hinten Speichenräder mit Alu-Felgen,
- Bereifung: vorn 100/90-19 57H TT, hinten 130/80-18 66H TT
- Bremsen: vorn eine 300 mm Scheibenbremse, hinten 160 mm Trommelbremse
Maße und Gewichte
- Länge: 2.190 mm
- Radstand: 1.455 mm
- Sitzhöhe: 800 mm
- Nachlauf: 105 mm,
- Tankinhalt: 15 Liter,
- Gewicht: 212 Kilogramm (trocken: 195 kg)
- Höchstgeschwindigkeit: 170 km/h
Welche Erfahrungen habt ihr gemacht? Schickt uns gerne Fotos Eurer Bikes.
W 650 Custom Bikes auf Basis der beliebten Kawa
Schon seit Jahren ist die Kawasaki W 650 zum Liebling der Customszene auserkoren worden. Die heißesten Umbauten haben wir hier:
Kawasaki W 650 Tattoo von Schlachtwerk:
W 650 Scrambler „Golden Ei“ von Zweirad-Dötsch:
Schweizer Veredelung einer W650:
Kawasaki W 650 Bratsytle von Schlachtwerk:
W650 Cafe-Pur von Zweirad-Dötsch:
Macaco-Racing W 650 von Schlachtwerk:
Kawasaki W 650 Raw Metal von Schlachtwerk:
W650 Gold Digger von Ton-Up Garage:
(Bildnachweis: Michael1952 (Michael) CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]; Khaosaming [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], vom Wikimedia Commons / W650 Cafe-Pur: Huber-Verlag / W650 Gold Digger: Joel Bessa / Schweizer Kawasaki W650 Umbau: Louis Kasper / W650 Tattoo: Marc Holstein / Kawasaki W 650 Raw Metal: Marc Holstein)
perfect, thank you!
Die Fotos der Umbauten sind schöne Beispiele, wie man sich aus einem schönen Motorrad einen Müllhaufen basteln kann.
Sehe ich genauso. Eher selten, daß ein Umbau besser aussieht als das Original.
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Wer will, soll doch die W umbauen. Einzig ihm soll das gefallen, niemand anderem. Bei einem Umbau geht es ja auch nicht darum, dass es besser als das Original aussehen soll. Da geht es darum, seine eigenen optischen Design-Ideen zu verwirklichen