„Die Goldgräberstimmung ist vorbei“ habe ich vor zwei Tagen gepostet. Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten und auch der Bundesverband der Motorradfahrer e.v. meldete sich zu Wort und fragte „ob man das Geschehen in der Custom-Szene tatsächlich so pessimistisch sehen muss wie Nippon-Classic es darstellt.“ Um nicht der „Betriebsblindheit“ zu erliegen, bat ich Onno Seyler, Werbe-Fotograf und Foto-Journalist der Branche, um (s)eine Sicht auf die aktuelle Entwicklung. Ist Custom wirklich tot? Onno kennt die Szene wie kaum ein anderer, er war 25 in der Werbung tätig und ist heute regelmäßig für MOTORRAD und FUEL tätig.
Ist Custom tot?
Diese Frage sollte auch im Kontext von medialer Begleitung gestellt werden. Die steile These gleich zu Anfang: Im Sinne der Gewinnvorstellungen von Customizern und Szene-Berichterstattern war Custom möglicherweise nie lebendig. Oder anders gefragt, in Bezug auf Medien und den aktuellen Fall CRAFTRAD: Ist vielleicht Print tot? Alles hängt mit allem zusammen. Und tot ist niemand, so viel vorweg.
Als Ex-Werber und Branchen-Insider würde ich es zunächst so zusammenfassen: Den Wunsch nach Individualisierung wird es immer geben, er ist evolutionsbiologisch tief in uns verankert. Die Dinge nicht so zu lassen, wie sie vorgefunden werden, ist immer der Beginn von Kultur. Und die zeichnet den Homo sapiens aus. Aber Individualisierung im Motorradbereich hat unendlich viele Facetten, aufwändiges Customizing ist nur die spektakulärste davon. Den meisten genügt weit weniger, sich ein wenig vom Grau abzusetzen und individuell zu fühlen.
Zuversichtlich denken und von der Evolution lernen.
Betrachten wir den Gesamtmarkt: Mitte 2019 verzeichneten die Hersteller 12% Zuwachs zum Vorjahr. Die Branche lebt also. Und das Motorrad ist längst vom preiswerten Verkehrsmittel auch zum Lifestyle-Statement avanciert. Möglicherweise aber reicht die Relevanz von Custom nicht aus, allein daraus fortwährend den Content zu generieren, den gleich mehrere darauf fokussierte Print-Magazine gewinnbringend publizieren wollten.
Denn wenn das Budget der werbetreibenden Wirtschaft ausreichen würde, gäbe es CRAFTRAD oder RUSTY NAIL MOTORS etc. noch, so meine vorsichtige Mutmaßung. Diese Magazine waren von Anfang an wunderbare, wertige Nischenprodukte, deren zwingender Einzelverkaufspreis aber grundsätzlich auf Skepsis der letztlich wenigen Leser treffen musste. Also kann so ein Medium nur mit ausreichendem Anzeigenumsatz leben, der wiederum von der Reichweite des Magazins abhängig gemacht wird. Das Konzept gelangt ohne intelligenten Vertrieb schnell in eine Zwickmühle. Irgendwann will man in der Marketingabteilung des Anzeigenkunden eine Leserstrukturanalyse sehen und wenn die hinsichtlich Quantität nicht den Zielplanungen entspricht, zieht man sein Geld ab oder reduziert die Frequenz. So einfach ist manchmal die Rechnung.
Warum aber haben die Spendings der Brands nicht gereicht? Weil es zu viele Magazine gab, die vom recht überschaubaren Kuchen naschen wollten. Custom, im Sinne der quirligen Szene, gibt nun mal weniger Umsatzrelevanz für die Marktteilnehmer her, als Neufahrzeuge und Zubehör. Der kluge Marketingleiter weiß: Ein authentischer Custom-Liebhaber, wie er als ungezähmter, kreativer Prototyp überall gezeichnet wird, kauft kein Neufahrzeug und interessiert sich nicht für das Zubehör von Touratech.
Daraus folgt: Print ist nicht tot, es muss nur auf einen Markt skaliert werden, für den Print seine Relevanz behält. So auch das Thema Customizing. Zusätzlich muss der Titel oder der Verlag dringend kräftig in Online investieren und sich smarten Bezahlmodellen anschließen. Denn dort liegt ganz sicher die Zukunft, die Zielgruppe Print schrumpft, das ist banale Demografie. Hochexklusive Magazine, die neben wesentlichen Themen auch ein haptisches Erlebnis durch wertige Grammatur und große, wirkmächtige Bildwelten bieten und in jedem Herrenzimmer zu liegen haben, wird es immer geben. Aber eben nur wenige, in Deutschland vielleicht nur eins.
Zurück zu Custom an sich.
“Goldgräberstimmung” umschreibt es ganz gut, mehr war Custom aus meiner Sicht nie. In jedem Land hat eine Handvoll Customizer in einem sehr kurzen Zeitfenster das Licht der Öffentlichkeit erblicken dürfen. Denn nach dem erfolgreichen Yamaha Yard Built Schachzug haben sich die anderen Marken ebenfalls der Szene-Schrauber angenommen, um sich selbst mit einer sexy Imagewelt aus Freiheit, Veredelung, Kreativität, Individualisierung und Abenteuer “aufzutanken”.
Custom war und ist ein Vehikel für mehr Erlebnis rund um die Markenkultur. Geld verdient haben diese Customizer nicht wirklich. Größen wie Marcus Walz hatten bereits vor dem Hype ihre Schäfchen im Trockenen. Und etablierte Custom-Brands wie Deus Ex Machina leben vom großen Mix aus Moped, Surfing, Livestyle und Klamotte (Merchandising). Kreativ-Lieferanten wie Wrenchmonkees konnten nicht überleben, da ihr wahrgenommenes Angebot die kostenlose Inspiration war.
Zusammengefasst: Je kleiner der Markt, desto weniger monetär erfolgreiche Teilnehmer. Ganz besonders gilt das für Print-Medien, deren Produktionskosten als Special Interest Magazine nur schwer zu stemmen sind. Custom hat man wahrscheinlich etwas überschätzt und vielleicht auch überzeichnet und wir erleben jetzt eine Konsolidierungsphase.
Custom ist seit jeher die kulturelle Nische und immer wieder gern zitierte Quelle des gefeierten Individualismus der Branche. Mehr aber nicht. BMW hat es verstanden, daraus Honig zu saugen. Als eine der letzten Marken haben die Münchner “Custom” sehr clever aufgegriffen und über Dekore und simple Kits die gefühlte Individualisierung seriell in den Markt gebracht. Mittlerweile hat BMW eine Modell-Palette, aus der sich der geneigte Individualist blind bedienen kann, ohne dass noch irgendwas am Fahrzeug geändert werden muss: Die Mopeds sehen einfach traumhaft aus und erinnern nicht an Volumenfahrzeuge.
Marktteilnehmern, die evolutionär denken, die Anpassung und Spezialisierung intelligent verknüpfen, gehört die Zukunft. Und der kreativen Custom-Szene sowieso. Denn es ist immer die Idee, aus der Fortschritt gemacht wird. Allerdings muss jedem auch bewusst sein, dass die Motorradbranche nicht über die gleichen Budget-Töpfe verfügt wie die Autoindustrie.
[Autor: Onno Seyler: www.onno-photography.com]
Hallo Onno, hallo Jens,
sehr treffend analysiert. Sicherlich werden im Print-Bereich die Anker-Marken mit mehreren Dekaden Lebenszeit weiterhin am Markt existieren, obwohl auch dort der online-Bereich immer mehr in den Vordergrund tritt.
Über allem schwebt aber die Prämisse, daß das Motorrad (und das Motorradfahren) stets und immer mehr ist, als ein montäres Generierungsprojekt gewinnorientierter Hipster. Ich sage das als Baby-Boomer (Jahrgang 1965) in aller Deutlichkeit, weil schon der philosophische Ansatz des Motorradbaus aus der japanischen ( oder auch asiatischen Kultur) wesentlich längerfristig daherkommt. Als zu Beginn der 80er der Niedergang der einheimischen Zweiradindustrie erfolgte, hatte man bei allen bekannten Herstellern tolle Bikes in der Schublade (Zündapp KS 350 Twin etc.), allein es fehlte am Mut der jeweiligen Firmenleitungen und an der Risikobereitschaft der Financiers, diese Fahrzeuge zu realisieren. Bei YAMAHA und SUZUKI verdiente man dagegen in der Zeit mit der RD-LC- Range schon tüchtig Geld, ebenso mit den zahlreichen RG bzw. RG-V-Modellen.
Was folgt daraus: Erstens ist diese Art der Fortbewegung immer in einer langfristigen Perspektive zu betrachten. Zweitens sind bei den großen Herstellern auch die Marketing-Crews auf der Suche nach der Lücke in der Nische bei der Individualisierung, drittens war bei vorigen Generationen Menschen im erwerbsfähigen Alter die Kaufkraft tendenziell höher (mehr Geld für Hobbies) und last but not least gab es noch nie so viele verschiedene Möglichkeiten, seine Freizeit mit irgend welchen x-beliebigen Aktivitäten zu verbringen.
Die zweitschönste ist hier natürlich das Motorradfahren, denn anthropologisch sind wir Motorradfahrer nichts Anderes als Steppenreiter, die mit ihrem Pferd mit Highspeed den Adrenalinschub geniessen.
Bikergruß
Frank Colling
Sehr schön, dass die Situation überhaupt mal von dieser Seite betrachtet wird!
Der Harley -Custom- Boom dauerte fast dreissig Jahre und beschleunigte sich am Ende derart stark, daß er sich totgelaufen hat. Meiner Meinung nach durch die immer schneller eintretende Notwendigkeit, noch individueller zu sein. Flacher-breiter-schneller-lauter-hipper-tätowierter.
Es reichte auf einmal nicht mehr, eine individuelle Harley zu haben, etwas anderes musste her. Da kamen Deus, Blitz, Urban Motor und die anderen Marketingstrategen genau richtig. Neue Besen kehren gut und es ging wieder von vorne los. Nur halt im turboschnellen Wischelfon- Galopp. Ein Strohfeuer, das beachtliche Wärme entwickelte, in dem sich auch im Randbereich noch viele Leute wärmen konnten.
Es ist schon etwas beängstigend, wie schnell die Beschleunigung mancher neuer Moden heute durch die sozialen Medien ist. So schnell, dass sie sich manchmal nach kurzer Zeit selbst aus der Umlaufbahn katapultieren.
Mir wird ja manchmal vorgeworfen, ich wäre total von gestern und dadurch bald auf dem Abstellgleis. Ich sehe das anders. Eine gewisse Bodenständigkeit und handwerkliche Erfahrung waren noch nie verkehrt. Es ist sehr interessant, neue Einflüsse zu sehen. Man muss aber nicht zwanghaft alles mitmachen.
Was gerade an alten Motorrädern aus Kellern und Schuppen für sehr viel Geld an die hungrige Meute verfüttert wurde, reicht für fähige Werkstätten noch für mindestens fünf bis zehn Jahre, um mit Reparaturen und Nachbesserungen ein einigermassen einträgliches Auskommen zu haben.