Getreu dem Motto „darf es ein bisschen mehr sein?“ sorgten sie in den 1970er Jahren für Furore. Mit ihren vielzähligen Auspuffkrümmern, die links wie rechts unerhört weit aus den Zylinderköpfen ragten, waren sie nicht nur ein atemberaubender Anblick, sondern versprachen auch ein Fahrvergnügen der Sonderklasse. Mit ihren Sechszylinder Motorrädern wetteiferten italienische und japanische Hersteller um die Vormachtstellung in der Motorradbranche jener Zeit und machten die schweren Maschinen mit den sechs Töpfen salonfähig.
Der Mythos der Sechszylinder-Motorräder ist bis heute ungebrochen und bei Motorradtreffen ein sicherer Publikumsmagnet. Ein bis vier Zylinder waren und sind im Zweiradbau übliche Motorenkonzepte. Mehr Zylinder hingegen bilden die absolute Ausnahme und nur wenige Hersteller wag(t)en sich in dieses Terrain vor. So wundert es nicht, dass nur wenige Modelle mit sechs Zylindern in Serie gefertigt wurden bzw. werden. Was in den 1970er-Jahren begann, erlebte vierzig Jahre später ein Revival.
Wegbereiter der Sechszylinder Motorräder
Die Ehre des Wegbereiters dieser Motorrad-Gattung gebührt keinem geringeren als dem Gründer einer der legendärsten Sportwagenmarken: Alejandro de Tomaso. De Tomaso übernahm in den 70er-Jahren nicht nur italienische Auto-Ikonen wie Ghia, Vignale, Maserati oder Innocenti, sondern verleibte sich auch Motorradmarken wie Moto Guzzi und Benelli ein.
Bei Benelli gab der wagemutige De Tomaso sogleich Gas und grünes Licht für das erste Sechszylinder-Motorrad der Welt, das in Serie gebaut wurde: die Benelli Sei 750. 1974 startete sie mit einem luftgekühlten Reihensechszylindermotor, der vom Vierzylinder der Honda CB 500 abgeleitet wurde. Benelli erweiterte das Triebwerk einfach um jeweils einen Zylinder links und rechts. Die Maschine mobilisierte 76 PS und beschleunigte die 235 Kilogramm schwere Sei auf über 200 km/h.
Nicht nur die Fahrwerte der Benelli Sei beeindruckten, auch in puncto Laufkultur nahm das Motorrad eine Sonderstellung ein. In ihren fünf Produktionsjahren bis 1978 liefen immerhin 3.000 dieser Sechszylinder Motorräder vom Band.
Benelli Sei 900
Honda stellte erst 1978 das zweite Sechszylinder-Motorrad vor, die Honda CBX1000. Benelli reagierte prompt mit der 1979 eingeführten 900 Sei, die im Vergleich zur 750 deutlich moderner wirkte und statt sechs Auspuffendrohre jeweils drei Krümmer in ein Endrohr führte. Auch bei der Höchstgeschwindigkeit musste man Abstriche hinnehmen, denn trotz Leistungsplus fuhr die über 250 Kilo schwere 900 deutlich unter 200 km/h. Auch an den kommerziellen Erfolg der Benelli 750 Sei konnte sie nicht anknüpfen: In zehn Jahren wurde sie keine 2.000 Mal verkauft. Heute sind Originalmaschinen, egal ob 750 oder 900, auf dem Gebrauchtmarkt äußerst rar und deren Preise in der Regel fünfstellig.
Paukenschlag der Japaner – Honda CBX 1000
In den 1970er-Jahre begann die große Zeit der Japaner auch in Europa. Immer wieder sorgten die Eroberer aus Fernost mit spektakulären Neuheiten für Aufsehen.
Dazu gehörte auch die Honda CBX1000, die ebenfalls einen luftgekühlten Reihensechszylinder mit allerdings 1.047 Kubikzentimeter Hubraum bot. Über 270 Kilogramm brachte die heute noch elegant und wuchtig zugleich wirkende Schönheit auf die Waage, die dank 105 PS in 4 Sekunden die 100-km/h-Marke und maximal 220 km/h erreicht. Mit ihrer aus heutiger Sicht fast zahm wirkenden PS-Zahl löste die Honda CBX in Deutschland die Diskussion über eine Leistungsbegrenzung aus, die zumindest für einige Jahre in einer freiwilligen Beschränkung der Hersteller auf 100 PS mündete.
Trotz des für damalige Verhältnisse stolzen Preises von 11.000 D-Mark verkaufte sich die starke Honda in ihren fünf Jahren weltweit gut 36.000 Mal, davon 6.000 Mal in Deutschland. Wohl auch deshalb ist es heute problemlos möglich, eine CBX auf dem Gebrauchtmarkt zu moderaten vierstelligen Preisen zu ergattern.
Kawasaki Z 1300 degradierte die CBX
1978 war die CBX ein Paukenschlag, dem Kawasaki bereits im Frühjahr 1979 mit der Z1300 noch eins daraufsetzen konnte. Die wuchtige Kawasaki Z 1300 degradierte die Honda CBX nicht nur in puncto Hubraum und Leistung zur Statistin, sie trumpfte außerdem noch mit einer Wasserkühlung des Motors und Kardanantrieb auf.
Das kostete und wog: rund 12.000 D-Mark und über 300 Kilogramm. Hohes Gewicht, mäßige Schräglagenfreiheit sowie ein bisweilen auch üppiger Verbrauch verhinderten einen größeren Verkaufserfolg. Trotzdem gilt die Z 1300 auch heute noch vielen als eine Ikone des Motorradbaus. Auch in Deutschland, wo sie aufgrund der freiwilligen Beschränkung nur 100 PS leistete, während Biker in den USA die Super-Z mit 120 PS fahren durften.
Obwohl die Z 1300 mit ihren Verkaufszahlen hinter den Erwartungen zurückblieb, führte sie Kawasaki über zehn Jahre im Programm, ab 1984 sogar technisch aufgewertet als ZG 1300 DFI. DFI ist der Verweis auf die elektrische Benzineinspritzung für bessere Gasannahme und weniger Verbrauch. Doch auch solche technischen Kniffe konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Z, Sei und CBX kommerziell nur bedingt erfolgreich und technisch ohnehin eine Sackgasse waren. Entsprechend endete mit der Z 1300 auch die Ära der Sechszylinder-Naked-Bikes für lange Zeit. Ganz tot war diese Königsklasse aber selbst danach nicht. In den Cruisern, wie der Kawasaki ZN 1300 Voyager, lebte der Mythos der Sechszylinder-Motorräder weiter.
Boxer statt Reihensechser
So hielt Honda dem Sechszylinder mit der Einführung der Goldwing GL 1500 die Treue. 1988 griff der Cruiser das Sechszylinder-Thema in allerdings neuer Form auf: Statt eines quer montierten Reihensechszylinders kam ein 1,5 Liter-Boxermotor mit drei sich gegenüberliegenden Kolbenpaaren zum Einsatz, die in dieser Anordnung besondere Laufruhe bescherten. Doch auch längsdynamisch überzeugte der zudem langlebige Boxer in dem fast 400 Kilogramm schweren Reise- und Komfortmotorrad. Seither hat Honda sowohl den speziellen Sechsender als auch die Goldwing in zwei Generationen weiterentwickelt. Zwischenzeitlich wurde die GL-Boxer in Modellen wie der F6B oder der Valkyrie Rune verwendet. Derzeit gibt es ihn mit 125 PS ausschließlich in der GL 1800, optional sogar in Kombination mit einer 7-Gang-Doppelkupplungsautomatik. Mit dieser Verwöhntechnik ist eine Goldwing teuer, doch ältere Exemplare kriegt man schon für mittlere vierstellige Beträge.
Sechszylinder-Revival nach 40 Jahren
Komfort und ein souveräner Vortrieb standen wohl im Lastenheft der 2011 eingeführten BMW K 1600 GT – dem ersten Sechszylindermotorrad aus deutscher Produktion. Anders als bei den frühen Sechszylinder-Motorrädern aus Japan und Italien baute BMW die 1,65-Liter-Maschine vergleichsweise schmal und hüllte sie zudem in die Verkleidung eines Reisetourers. Weniger der Look als das Feel der großen Maschine war hier ausschlaggebend. Immerhin sprintet die 300 Kilogramm leichte und 160 PS starke GT in 3 Sekunden auf Tempo 100 und erreicht 250 km/h Spitze. Neu kostet der erste Sechsender von BMW über 22.000 Euro, doch mittlerweile finden sich einige gebrauchte Exemplare für bereits vierstellige Summen.
Mit der Wiederbelebung der deutsche Motorradmarke Horex wurde 2012 das vorläufig jüngste Kapital in der Geschichte der Sechszylinder-Motorräder aufgeschlagen. Mit dem Marktstart der Horex VR6 wurde seit vielen Jahrzehnten das erste sportliche Naked Bike mit sechs Zylindern aufgelegt. Wie der Modellname VR6 andeutet, bietet die Horex eine Mischung aus Reihen- und V-Motor. Das VR-Motorenkonzept erlaubt eine sehr kompakte Bauweise. So ist das 1,2-Liter-Aggregat des Sechszylinder-Motorrades nur etwas über 40 Zentimeter breit.
Zudem beeindruckt die Horex mit einer enormen Leistung von 163 PS bei rund 250 Kilogramm Gewicht. Die Sprintzeit liegt unter 10 Sekunden – allerdings auf Tempo 200. Technisch und optisch ist die Neuzeit-Horex also imposant, doch mit aktuellen Neupreisen von mindestens 38.500 Euro auch extrem teuer. Entsprechend diesem hohen Preis, 2013 waren es übrigens nur etwas über 20.000 Euro, ist die VR6 bislang alles andere als ein Verkaufsschlager. 2014 ging die frisch wiederbelebte Marke Horex sogar in die Insolvenz, konnte allerdings wiederbelebt werden. Einige wenige Exemplare der ersten Baujahre findet man auf Online-Gebrauchtbörsen für unter 20.000 Euro.
[Autoren: Jens Schultze, Mario Hommen/SP-X)
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