Am 29. Januar 1886 erhielt Carl Benz das Patent „DRP 37435“ für sein dreirädriges Fahrzeug mit Gasmotor vom Kaiserlichen Patentamt in Berlin. Dieses Datum ist die Geburtsstunde des Automobils und markiert den Ursprung der individuellen Mobilität. 127 Jahre später, am 29. Januar 2013, trat die von den Delegierten der Generalversammlung der Fédération Internationale des Véhicules Anciens (FIVA) im Oktober 2012 verabschiedete „Charta von Turin“ offiziell in Kraft.
Dieses Grundsatzpapier unterstreicht die kulturhistorische Bedeutung des Automobils und plädiert für einen verantwortungsvollen Umgang mit historischen Fahrzeugen. Die Leitlinien und Grundsätze bieten Besitzern solcher Fahrzeuge erstmals Orientierungshilfen und Empfehlungen hinsichtlich Nutzung, Unterhalt, Reparatur und Restaurierung. Die Charta ist ein grundlegendes, weltweit anerkanntes Dokument, mit dem die FIVA auf die Anforderungen von internationalen politischen Organisationen wie dem Europaparlament oder der UNESCO reagiert. Sie steht in einer Linie mit der Charta von Barcelona zum Schutz historischer Schiffe und der Charta von Riga zum Schutz historischer Eisenbahnen.
Mit der Charta von Turin sichert der Oldtimer-Weltverband FIVA das internationale Recht, mit historischen Straßenfahrzeugen mobil zu sein.
„Wenn wir morgen noch Oldtimer erleben wollen, müssen wir sie jetzt zu einem schützenswerten Kulturgut erheben“, so FIVA-Präsident Horst Brüning. Und das bedeutet nicht, alte Fahrzeuge in Museen zu stellen. „Nein, im Gegenteil. Wir wollen mit der Charta dafür sorgen, dass Oldtimer verstärkt auf öffentlichen Straßen bewegt werden. Denn nur so können sie ihre Geschichten und die von ihnen ausgehende Faszination mit allen teilen“, so Brüning weiter.
Die Charta soll Anleitung geben, im Betrieb und bei der Restaurierung eines Fahrzeugs möglichst viel original Substanz zu bewahren, alle Arbeiten zu dokumentieren und natürlich die Fahrtüchtigkeit zu erhalten.
Wachsendes Interesse an historischen Fahrzeugen
Immer mehr Menschen interessieren sich für Oldtimer und möchten gern ein historisches Fahrzeug ihr Eigen nennen. War diese Liebhaberei bis vor wenigen Jahren noch ein Hobby für eine überschaubare Zahl von Enthusiasten, so ist heute daraus eine globale Bewegung geworden. Doch immer schärfere und komplexere Vorgaben und Regeln für Umweltschutz oder Sicherheit verleiten dazu, Oldtimer in ihrem Urzustand zu verändern, damit sie auch weiterhin auf öffentlichen Straßen gefahren werden dürfen. Genau hier setzt die FIVA mit ihrer Charta von Turin an: Erstmalig soll mit diesem Regelwerk die Einstellung auf internationaler Ebene anstatt wie bisher auf nationaler Ebene zu diesem Thema verändert werden. Das „UNESCO-Übereinkommen zum Kulturgüterschutz“ vom 14. November 1970 diente als Vorlage. Bis heute wurde es von 120 Staaten in nationales Recht umgewandelt. Mit der Charta von Turin definiert die FIVA Kriterien und Voraussetzungen, nach denen historische Fahrzeuge unter Kulturgüterschutz gestellt werden können.
Zentrales Anliegen der Charta ist die möglichst unveränderte Wahrung der historischen Substanz eines Fahrzeugs. Dazu gehören Automobile, Motorräder, Nutzfahrzeuge, Anhänger, Fahrräder und andere mechanisch angetriebenen Fahrzeuge sowie schienen-unabhängige Landfahrzeuge, die mit Dampf, Kraftstoff- sowie Muskelkraft oder Elektrizität betrieben werden. Ganz konkret gibt es einen Katalog an Empfehlungen, die sich mit der Nutzung, dem Unterhalt, der Konservierung, der Restaurierung, und der Reparatur von im Betrieb stehender historischer Fahrzeuge beschäftigen. Mit ihr halten Besitzer, aber auch Interessenten, Freunde und Händler erstmalig ein Papier in den Händen, das ihnen klare, eindeutige Hilfestellungen gibt, nachhaltig und im Sinne des Fahrzeugs zu agieren. Zudem ist eine ID-Karte auf Basis der Charta in Planung, die jedem Besitzer sowie Ver- oder Käufer eines solchen Fahrzeuges die Gewissheit gibt, dass das Fahrzeug gemäß den Turiner Richtlinien genutzt und gepflegt wurde.
Oldtimer – erhalten, wieder herstellen oder modifizieren?
Ziel der Charta ist es, die Fahrzeuggeschichte mit ihren materiellen und immateriellen Zeugnissen zu wahren sowie weiterzugeben. Es geht um möglichst große Authentizität – egal ob Oldtimer oder Classic Bikes. Eine fachgemäße, dauerhafte und nachhaltige Pflege aller Ausstattungsteile sowie der regelmäßige Betrieb sind dafür unerlässlich. Je häufiger ein Fahrzeug auf öffentlichen Straßen gefahren und gesehen wird, um so größer ist das Interesse nicht nur an den Objekten selbst sondern auch an den traditionellen Kenntnissen von Technik, Wartung und Betrieb.
Die FIVA unterscheidet drei verschiedene Prozesse für Betrieb und Wartung eines Fahrzeugs: Erhalten – hier geht es um die Pflege und des Schutz eines Fahrzeugs vor Beschädigung und Verfall des Originalzustands in seiner individuellen Qualität und seinem spezifischem Erinnerungswert. Es ist der oberste Grundsatz, dem Fahrzeug seine Geschichte zu belassen. Ein Aussehen „Besser als Neu“ ist nicht erwünscht. Wiederherstellen – dies beinhaltet sämtliche Prozesse der Reparatur, der Restauration oder Rekonstruktion. Dies umfasst z.B. Maßnahmen zur Ergänzung von fehlenden Teilen oder Bereichen mit dem Ziel, den früheren Zustand des Objektes wieder herzustellen und die authentische Substanz so weit wie möglich zu schonen. Modifizieren – darunter fallen alle Arbeiten, die sich vor allem um die mehr oder weniger genaue Imitation eines fabrikneuen Erscheinungsbildes bemüht, ohne Rücksicht auf historische Substanzen zu nehmen. Ein solcher Nachbau läuft Gefahr seinen kulturhistorischen Quellwert zu verlieren und entspricht daher nicht der in der Charta vertretenen Herangehensweisen an ein historisches Fahrzeug.
Zum besseren Verständnis, wie die Charta von Turin in der Praxis umgesetzt werden soll, wird es in naher Zukunft ein Anwendungshandbuch unter dem Arbeitstitel „Vademecum“ geben. Verantwortlich dafür zeichnet sich Thomas Kohler, Vorsitzender der Charta-Gruppe.
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